Theater in Helmstedt: Der zweite Verhandlungstag

Fiese Tricks bei der Anreise

Am 02. Mai um 10:00 sollte die Verhandlung fortgesetzt werden. Da das Ganze ein Strafbefehlsverfahren war, waren die Angeklagten und ihre Verteidigis darauf bedacht, pünktlich zu erscheinen (ein Zuspätkommen hätte eine Verwerfung des Einspruchs und eine sofortige Rechtskraft des im Strafbefehl angesetzten Urteils zur Folge). Von Braunschweig aus reisten sie mit einem Zug an, der um 9:30 den Hauptbahnhof in Helmstedt erreichte. In Helmstedt angekommen bemerkten sie, dass auch Staatsanwalt Londa in demselben Zug saß. Am Bahnsteig wurde sich kurz gegrüßt. Dann schlugen die Angeklagten, Verteidigis und Unterstützis den kürzesten Weg zum Amtsgericht ein, während Staatsanwalt Londa einen Umweg nahm. Warum, das wurde schnell klar. Augenscheinlich waren in ganz Helmstedt Streifenfahrzeuge und Wannen postiert. Direkt hinter der ersten Kreuzung geriet dann die ganze Gruppe in eine polizeiliche Maßnahme.

Als Grund für die Maßnahme wurde eine angebliche Gefährdungslage erfunden und es sollten von allen die Personalien kontrolliert werden. Inoffiziell drängt sich aber der Verdacht auf, dass die Maßnahme schlicht und einfach den Zweck hatte, die Angeklagten zu spät im Gericht erscheinen zu lassen. Obwohl den Beamt*innen alle Ausweisdokumente vorlagen und die Angeklagten bereits eine Spontanversammlung als Aufzug zum Gerichtsgebäude angezeigt hatten, wurden sie nicht laufen gelassen, sondern unter lautstarkem Protest eine virtel Stunde lang in der Maßnahme gehalten. Zum Glück hatte ein Verteidiger ein Handy dabei, mit dem er im Gericht anrufen und die Verspätung ankündigen konnte. Als dann angeblich alle Personalien ausreichend kontrolliert waren, bewegte sich die Leute als Aufzug unter Polizeigeleit zum Amtsgericht.

Vor der Tür stand – schon lange angekommen – Staatsanwalt Londa und stänkerte, dass die Angeklagten zu spät seien und der Einspruch gegen die Strafbefehle nun doch verworfen werden solle.

Verworfen hat Richter Bille die Einsprüche aber vernünftigerweise dann doch nicht.

Verhandlung eröffnet, feindselige Stimmung

Die Verhandlung begann mit einer feindseligen Stimmung. Die Angeklagten unterstellten Staatsanwalt Londa, von der Maßnahme, in der sie gelandet sind, gewusst und deshalb einen anderen Weg gewählt zu haben oder vielleicht sogar, dass die Staatsanwaltschaft selbst diese Maßnahme inszeniert hat. Wie es denn wirklich war, werden wir vielleicht nie erfahren. Oder wird die Behördenakte, die durch das eingeleitete Verwaltungsverfahren gegen die Maßnahme entstanden ist da neue Erkenntnisse bringen?

Was bedeutet „versuchter gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr“ eigentlich?

Im letzten Verhandlungstag wurde ja bereits der Vorwurf der Nötigung eingestellt und die Verfolgung auf den Vorwurf des „versuchten gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr“ beschränkt. Doch was heißt das? Damit sollte das Gericht sich in dem nächsten Beweisantrag auseinandersetzen:

Zum Beweis der Tatsache dass der BGH mit Urteil vom 09.12.2021 folgende Entscheidung mit folgendem Tenor getroffen hat: „Um den vorsätzlichen gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr […] zu qualifizieren, muss die Absicht des Täters darauf gerichtet sein, dass sich gerade eine von ihm herbeigeführte verkehrsspezifische Gefahr verwirklicht“ beantragen wir als Beweismittel die Herbeiziehung und Verlesung eben jenes Urteils mit dem Aktenzeichen 4 StR 167/21 (Fundstelle: openJur 2021, 47045)

Begründung:
Es folgen Zitate aus dem oben genannten Urteil: Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

[…] Noch bei Tageslicht gelangte [der Angeklagte] in den Bereich einer Brücke, die in etwa sieben Metern Höhe über eine Bundesstraße führt. Er ergriff aus einem Schotterhaufen mit einer Hand insgesamt 14 teilweise scharfkantige Schottersteine von unterschiedlicher Größe zwischen 3×3 cm bis 4×7 cm und einem Gesamtgewicht von etwa 470 g, um sie von der Brücke auf einen die Bundesstraße befahrenden Pkw fallen zu lassen. Dabei ging es ihm darum, Wut und Frust auf seine Mitpatienten durch den “Aufprall der Steine auf einem Fahrzeugdach und damit etwaig einhergehende Beschädigungen” abzubauen (UA 8). Da er keine Menschen töten, verletzen oder gefährden wollte, nahm er keine großen Steine.

[…] Infolge der von ihm benutzten “kleinen Steinchen” hielt er es nicht für möglich, dass diese die Frontscheibe des Fahrzeugs treffen, sie aufsplittern oder durchschlagen und Insassen treffen würden. Die mit dem Aufprall verbundenen Geräusche veranlassten den erschrockenen Geschädigten auch nicht zu einem unkontrollierten Fahrmanöver. Den Tod, die Verletzung oder eine Gefährdung der Insassen nahm der Angeklagte nicht billigend in Kauf. Den am Fahrzeugdach eingetretenen Sachschaden billigte er hingegen.

[…] Wie noch darzustellen sein wird, scheidet nach den Feststellungen des Landgerichts bereits die Vollendung des Grundtatbestands des § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB aus. […] Dieser Qualifikationstatbestand ist nur verwirklicht, wenn es dem Täter darauf ankommt, einen Unglücksfall dadurch herbeizuführen, dass sich die von ihm verursachte konkrete Gefahr verwirklicht (vgl. Wolters in SK-StGB, 9. Aufl., § 315 Rn. 13; Fischer, StGB, 68. Aufl., § 315 Rn. 22). Zwar muss seine Absicht nicht auf die Herbeiführung eines Personenschadens gerichtet sein, vielmehr reicht auch die Absicht aus, einen Sachschaden zu verursachen (vgl. BGH, Urteil vom 23. September 1999 – 4 StR 700/98, BGHSt 45, 211, 218; LK-StGB/König, 13. Aufl., § 315 Rn. 113). Erforderlich ist aber stets, dass sich nach der Vorstellung des Täters durch seine Tathandlung im Sinne des § 315b Abs. 1 StGB eine verkehrsspezifische Gefahr verwirklicht (vgl. MüKo-StGB/Pegel, 3. Aufl., § 315 Rn. 91; Renzikowski in Matt/Renzikowski, StGB, 2. Aufl., § 315 Rn. 24).

Mithin muss, um den vorsätzlichen gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr im Sinne des § 315 Abs. 3 Nr. 1a StGB zu qualifizieren, auch die Absicht des Täters darauf gerichtet sein, dass sich gerade eine von ihm herbeigeführte verkehrsspezifische Gefahr verwirklicht.

Der Senat kann nicht ausschließen, dass sich der Angeklagte des versuchten gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr schuldig gemacht hat. Dies wäre der Fall, wenn sein Tatentschluss zumindest auch darauf gerichtet war, die Windschutzscheibe des Fahrzeugs oder dessen Front zu treffen […]

Relevanz:

Mögen wir diese höchstrichterliche Rechtssprechung mal auf uns wirken lassen, uns alle an den Kopf fassen, diesen schütteln und uns fragen, warum wir hier eigentlich immer noch verhandeln…

Soso… Von einer Brücke Steine auf Autodächer fahrender Autos zu schmeißen ist nach Auffassung des obersten Gerichts [der ordentlichen Gerichtsbarkeit] in Deutschland nicht als „gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr“ verurteilbar. Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft Braunschweig soll das bloße Klettern auf der Brücke ohne Einwirkung in den Verkehr aber schon unter diesem Gesichtspunkt strafbar sein. Hier zeigt sich mal wieder, dass es denen in Robe überhaupt nicht um Recht und Gesetz geht, sondern nur darum, Interessen der Machthabenden durchzusetzen. Das Interesse ist, frechen und kreativen Protest von Straßen fernzuhalten. Und deshalb wird weiter verhandelt, Legal, illegal, scheißegal…

§420 StPO

Auch dieser Beweisantrag sollte, wie übrigens sämtliche Beweisanträge, die von Angeklagten und Verteidigung in dieser Hauptverhandlung gestellt wurden, nach §420 StPO abgelehnt werden. „Zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich“. Nach §420 ist Beweisantizipation in der Hauptverhandlung erlaubt. Der Paragraph soll das Verfahren beschleunigen. Tatsächlich hat Richter Bille aber durch die Anwendung des §420 das Verfahren aber nicht beschleunigt, sondern die Probleme nur ans Landgericht, an die Berufungsinstanz weitergeschoben.

Nochmal ganz klar: Die Aktion hat gar nicht auf der Straße stattgefunden

Zum Beweis der Tatsache dass in der aktuellen Fassung der RAA (Richtlinien für die Anlage von Autobahnen) der Autobahnraum in der Vertikalen wie folgt definiert ist:
„Der Überkopf-Sicherheitsraum auf Autobahnen ist 0,45 m hoch. Das bedeutet, dass die Höhe des gesamten Lichtraumes 4,70 m beträgt. In diesem Maß ist bereits ein Puffer von 0,20 m enthalten, um eine spätere Sanierung der Fahrbahn durch Überbauung zu ermöglichen.“ beantragen wir die Herbeiziehung und Inaugenscheinnahme der aktuellen Fassung der RAA

Das Gericht soll sich selbst ein Bild von einer solchen Aktion machen

Zum Beweis der Tatsache dass die Kletternden die Anwendung der für eine solche Kletteraktion erforderlichen und sicherheitsrelevanten Klettertechniken sowie eine Sach- und Fachgerechte Anwendung des verwendeten Klettermaterials beherrschen, beantragen wir als Beweismittel eine Nachstellung der Aktion an derselben Brücke sowie die Erstellung eines Sachverständigengutachtens betreffend die Anwendung von Kletter- und Sicherungstechniken durch die Kletternden sowie betreffend der Materialkunde der Angeklagten.

Begründung:

Ein Sachverständigengutachten, welches auf Beobachtung und Begutachtung einer möglichst exakten Nachstellung der hier zur Verhandlung stehenden Aktion beruht, dürfte wohl das geeignetste Beweismittel sein, die Tatsache zu bezeugen, dass die Angeklagten ihr Handwerk verstehen und auch professionell anzuwenden wissen.

Relevanz:

Dass nur professionell agierende Kletterpersonen an der Brücke agierten sei einer vorsätzlichen oder fahrlässigen Gefährdung des Straßenverkehrs sowie von Leib und Leben sowohl der Kletternden als auch der Autofahrenden auf der BAB39 durch etwaige Abstürze entgegengestellt. Eine Gefährdung jeglicher Personen sowie der Verkehrssicherheit wahr wohl durch die Angeklagten nicht intendiert, sondern vielmehr mit größtmöglicher Sorgfalt versucht worden zu vermeiden.

Verhandlung im Grünen?

Um die angespannte und feindselige Stimmung im Gerichtssaal aufzulockern, beantragten die Angeklagten, die Verhandlung nach draußen auf den Platz vor dem Gerichtsgebäude zu verlegen. Die frische Luft und die Sonnenstrahlen würden die Stimmung und das Wohlbefinden bei allen Beteiligten deutlich heben. Das Gericht war da wohl leider anderer Meinung, jedenfalls wurde der Antrag abgelehnt.

Intermezzo: Anträge auf Protokollierung:

Ich äh möchte äh zu Protokoll geben, dass die Person in der ersten Reihe äh zweiter Platz sitzt äh mit laufendem Gelächter äh dauerhaft durch Gelächter auffällt oder äh dauerhaft lacht“

– Staatsanwalt Londa

Ich möchte gerne zu Protokoll geben, dass der Herr Staatsanwalt sich beim Verlesen der Beweisanträge fortlaufend die Ohren zuhält“

– Angeklagte Person 1

Und ich möchte zu Protokoll geben, dass der Staatsanwalt durch Schreien auffällt“

– Angeklagte Person 2

Ich möchte zu Protokoll geben, dass die Person im Zuschauersaal in der ersten Reihe, die vorhin ermahnt worden ist, und auf dem rechten Platz – aus meiner Sicht – saß jetzt auf dem linken Platz sitzt, ihren Platz also getauscht hat. Ungebührliches Verhalten ist ja auch hier Hütchenspielchen

– Richter Bille

Beweisantrag: Autos sind gefährliche Gegenstände

Zum Beweis der Tatsache, dass Autos gefährliche Gegenstände sind, beantrage ich die Vernehmung des hier anwesenden Justizbeamten.

Begründung: Autos sind gefährlich für Verkehrsteilnehmer*innen und überhaupt für die Umwelt und das Klima. Eine Gefährdung der Verkehrssicherheit entsteht durch Autos und nicht durch Menschen, die versuchen, auf diese Gefahr hinzuweisen, indem sie von Autobahnbrücken baumeln. Als ich heute von den Justizbeamt*innen kontrolliert wurde, wurde mir sogar ein Spielzeugauto abgenommen. Das zeigt, wie krass gefährlich alle Autos sind, wenn selbst kleine Spielzeugautos von Sicherheitsbeamt*innen als gefährliche Gegenstände eingestuft werden. Dennoch handelt es sich bei diesen Gefahren im Straßenverkehr um eine rechtlich gebilligte Gefahr, die durch Abseilaktionen nicht erhöht wird.

Weitere Beweisanträge

Es folgten weitere Beweisanträge:

  • die Angeklagten hatten keine unbefestigten Gegenstände an sich, die hätten runterfallen können

  • das Kletterzeug war genormt und stabil

  • Menschen stehen auf deutschen Autobahnen im Jahr im Schnitt 120 Stunden im Stau (zielt auf Nicht-Verwerflichkeit der Aktion ab)

  • Vergleich mit einer Aktion, wo mit Hebebühnen über der A71 über fließendem Verkehr Brückenarbeiten durchgeführt wurden

Pladoyer der Staatsanwaltschaft

Hier wird das Pladoyer in Auszügen wörtlich wiedergegeben

Sehr geehrter Herr Vorsitzender, sehr geehrte Damen und Herren. Insgesamt stehen wir hier am Ende einer relativ… oder freundlich formuliert: einer relativ bunten Beweisaufnahme, die insbesondere durch das – so will ichs mal formulieren – unkonventionelle Auftreten der Angeklagten M. G. Und T. sowie ihrer Mitstreiterinnen und Mitstreiter geprägt war. Im Ergebnis ist jedenfalls nach Auffassung der Staatsanwaltschaft nicht gelungen jedenfalls den in den Stafbefehlsentwürfen vorgeworfenen versuchten gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr zu entkräften.“

Zwar haben die Angeklagten in ihren langen Eröffnungsreden keine Angabe zur Sache gemacht, sondern vielmehr zu anderen, mehr oder weniger interessanten Themen hervorgetragen, aber insgesamt keine Angaben zu ihrer Beteiligung an der Aktion – so will ichs mal hier nennen – am 23. März an der besagten Autobahnbrücke an der A39 gemacht. Dass die Angeklagten sich nicht zur Sache einlassen ist ihr gutes Recht, das ist ihnen nicht zur Last zu legen. Andererseits möchte ich an dieser Stelle anfügen, das ist auch im heutigen Verhandlungstermin deutlich zu Tage getreten, dass die Angeklagten sich einerseits sehr wohl ihrer strafprozessualen Rechte bewusst sind, auf der anderen Seite es allerdings mit der Rechtsfolge nicht soo genau nehmen, worauf ich auch zum späteren Zeitpunkt nochmal zurückkommen möchte.“

 

Urteil:
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